Auf das Wunderbare – „Happy Birthday, Tilli“
Zum 150. Geburtstag der Verlegerin Ottilie „Tilli“ Wunder-Riechers
Ottilie Wunder-Riechers wurde als Ottilie Riechers am 22. August 1872 in Hannover geboren. Ich schreibe „Happy Birthday, Tilli“, weil man sich Ottilie Wunder-Riechers so nah fühlen kann, weil mir ihre Stimme im Ohr noch immer nachklingt, weil sie jung klingt und humorvoll, geistreich und frei. Sie ist voller wunderbar lebendiger Erinnerungen. Es ist, als dürfe man ein Gespräch belauschen, als sei man eingeladen als stiller Gast, zum Tee vielleicht mit Johanne von Gemmingen und Tilli Wunder-Riechers. In Gedanken kraule ich den Wellensittich im Hintergrund und kann mich nicht entscheiden, ob er grün oder blau sein wird. Es ist August im Jahre 1967. „Tilli“ ist zum Zeitpunkt des Interviews 95 Jahre alt. Ihr Urenkel, Gerhard Mayer, erinnert sich an das Interview. Über große Umwege, über Kanada, hat die Aufzeichnung dieses Nachmittags schließlich zu ihm gefunden und es ist wie zurückkehren in die Maximilianstraße 1 in Neu-Ulm an der Donau. Dasselbe Haus, in dem Margarethe Mörike einst schwärmerische Briefe (um 1888) an den „verehrten, lieben Landrath“ Theodor Storm verfasste.
Nicht weit entfernt, wo ein Schneider, der vor allen fliegen sollte, fiel. Fliegen und Fallen, der Moment, bevor sich entscheidet, was kommt, wird ein zentrales Thema in meinem Stadtschreiberbuch sein. Dieser Moment kann eine Voraussetzung sein für die Verlebendigung der Dinge. Gewissermaßen verlebendigt sie dieses Interview ebenfalls. Ich sehe Clara Schumann zu Besuch vor mir, wie sie Klavier spielt, wie sie den Bechstein-Flügel des Hauses weiht, sich beklagt, um Hilfe bittet, Liebeskummer hat, wie Klang und Schönheit sich ausbreiten.
Ich sehe einen Himmel voller Geigen, Tillis Vater, den schon damals international bekannten Geigenbauer August Riechers, wie er bei Proben sinnierend im Nebenzimmer auf- und abgeht. Als ich das erste Mal von August Riechers hörte, durch dessen Hände über 1600 Geigen gingen, davon, wie er u. a. Stradivari- und Guarneri-Geigen restaurierte und wer wie aus welchem Grunde zu ihm kam, stellte ich mir einen erfinderischen, aber gestrengen Geist mit heilenden Händen vor. Jemand, der mit Musik heilt, der Klangkörper schafft, auf eine andere Art ein Poet. „Die Geige und ihr Bau“ (erschienen 1893, bei Franz Wunder, in Göttingen) wird er uns in Buchform hinterlassen. Im Vorwort desselben heißt es: „Dem ausgezeichneten Geigenmacher und Wiederhersteller alter Instrumente hochgeschätzten Verfasser dieser Schrift ist es nicht vergönnt gewesen, dieselbe selbst zu veröffentlichen, da er durch seinen am 4. Januar d. J. erfolgten Tod daran verhindert wurde.“ Bis heute gibt es noch wenige Exemplare des vom Deutschen auch ins Englische übertragenen Liebhaber-Buches weltweit. Durchaus passend also, dass sein Schwiegersohn, Franz Wunder, auch eine große Liebe zu Büchern pflegte. Er war Buchhändler und Verleger.
Tilli lebte als Kind in Hannover bereits in einem von Künstlern, Musikern und Poeten bevölkerten Haus, wie lebhafte Geister gingen sie dort, wie auch später in der Cuxhavener Straße 2 in Berlin, ein und aus. Gad Granach weiß in seinem späteren Buch „Heimat los!“ zu erzählen: „Die Wohnung war voller Menschen, Schauspieler, Schriftsteller, Philosophen […] Brecht, Piscater, Heinrich Mann, Klabund, Hesse, Heinrich George, Erich Mühsam und viele andere. Da wurde gekocht und gegessen und getrunken, und gefeiert […].“
Vor meinem inneren Auge erscheint erneut Johannes Brahms im schwarzen Gehrock und diskutiert neben Musik die Speziallacke des Geigenbauers. Er kommt auch, um der oftmals unglücklichen Clara Schumann über ihre Ehe hinaus beizustehen. Retrospektiv würde man vielleicht sagen, dass Tilli Wunder-Riechers ein entbehrungsreiches Leben geführt hat. Als erste Verlegerin in Berlin um 1910/11 überstand sie zwei Weltkriege und Inflationen, war mit 19 Jahren mit dem Buchhändler Franz Wunder verheiratet, mit 36 bereits Jahren verwitwet, alleinerziehende Mutter von 4 Kindern und dann plötzlich selbst Verlegerin. Sie führt den Verlag ihres verstorbenen Mannes in dessen Namen weiter, auch die Buchhandlung, in der sie zu Lesungen und Konzerten lädt. Hier kommen ihr die früh geknüpften internationalen Künstlerkontakte zugute. Zuerst sei es ein literarischer Verlag gewesen, später ein freimaurerischer. Namen wie Rilke („Mir zur Feier“) und Nietzsche („Gedächtnis-Rede“, Weimar 1900), Tolstoi (Ausgewählte Stücke, 1906/„Der Weg zur sozialen Befreiung“) kommen hinzu, und auf die Frage, wer denn ihre Bücher gegengelesen hat, antwortet Tilli im Interview schmunzelnd, natürlich sie selbst, das hat man doch keine Freimaurer lesen lassen.
In Neu-Ulm hat Ottilie Wunder-Riechers ihre letzten Jahre verbracht, auch auf ein Zirkuskamel hat man sie zuvor gesetzt, aber das ist eine andere, wundersame Geschichte aus einem Reisekoffer voller Erinnerungen. „Happy Birthday, Tilli!“, auf weitere 150 Jahre verlebendigter Geschichten.
Fotos: Julia Kulewatz
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