Die zwei Türme – Meeting Myrah
Ich erinnere mich, es ist der 16. Juni 2022. Unter mir fließt der Strom, der Strom meines von der Stadt geliehenen E-Bikes, und ich bin schon fast zu spät. Ich bin von einem Workshop unter der Leitung des Dichters José Oliver unterwegs zum Wasserturm. Neu-Ulm hat zwei. Den einen kennen die Touristen, den anderen die Neu-Ulmer. Ich komme von dem anderen, dem dunklen, amerikanischen Zwilling, dem der Abriss drohte, dem, den die Neu-Ulmer kennen. Der Wiley steht in der Nähe der Hochschule für angewandte Wissenschaften. Dort habe ich für alle, die ich nach dem Weg gefragt habe, hingehört, der „richtige“ Wasserturm für eine Stadtschreiberin. Tatsächlich jedoch findet das geplante öffentliche Interview mit der Künstlerin Myrah Adams an dem Wasserturm statt, in dem man eine eingesperrte Rapunzel vermutet, der touristische, von dem es kleine Skulpturen und Backförmchen gibt. Dort wartet man bereits vor und auf von Melanie Meyer gestalteten „Bänken der Begegnung“. Noch immer trage ich den anderen Wasserturm mit mir in Gedanken zu allen, die jetzt um Rapunzel sitzen.
Ich durfte mich vor dem geplanten Interview schon etwas länger mit Myrah Adams austauschen, bevor ich wusste, dass sie die Künstlerin ist, deren Werke mich schon zuvor interessiert haben. Sie begegnete mir zuerst auf einem interessanten Ausstellungsflyer, „Armutszeugnisse“, im Atelier 34 ½, später persönlich auf einer Mitgliederversammlung des Kunstvereins. Wir haben uns lange unterhalten und es ist, als ob man langsam in kaltes Wasser gleitet, wenn man Myrah Adams’ Werke berührt, kurz vor dem Unterleib muss man innehalten und tief durchatmen.
Um Myrah Adams hat sich eine gute Menge Publikum versammelt, auch der Theaterschauspieler Clemens Grote, der Autor und Künstler Florian L. Arnold, der Verleger Alexander Walz und die Gestalterin Melanie Meyer sind mit von der Partie. Myrah Adams sitzt umgeben von Menschen abwartend und sinnierend mit Anschauungsmaterial auf ihrem Schoß. Das Publikum ist vom ersten Augenblick an mit eingebunden. Die Künstlerin selbst wirft Fragen auf und ist auch mutig genug, diese ihren eigenen Arbeiten zu stellen. Nichts ist, wie es scheint. In ihrem aktuellen Collagenwerk sitzt eine Frau mit geschlossen Beinen und roten Schuhen. Ich trage den zweiten Wasserturm in mir, der auch irgendwo in Kansas stehen könnte, und denke unweigerlich an Dorothy von Oz und dass sie erwachsen werden musste, an weiß behangenen Wäscheleinen, schwarz-weiß collagierte Vergangenheit um sie, Mauern und wildes Geäst, halbnackt, reisefertig auf einer Kofferkiste sitzend; bereit für alles, was kommen muss.
Ich versuche, die Unruhe, die Myrahs Arbeiten in mir wecken, mit der Ruhe in den Zügen der Künstlerin in Einklang zu bringen. Nach einigen Minuten gelingt es mir. Am besten immer dann, wenn Myrah Adams Fragen beantwortet, dann blitzt etwas sehr Junges, Tiefes, Freies hinter ihren Augen auf, etwas wie Wasser.
Ihre Bilder kann ich nur stufenweise betreten. Myrah Adams schenkt dem Betrachter Treppen in ihre Gewässer. Bereits das Format begründet die inhaltliche Aussage mit. Ich sortiere mir die Reizüberflutung und stehe auf einigen Stufen etwas länger als beabsichtigt, gut, dass Dorothys Beine dem Betrachter geschlossen bleiben, um alles Dahinter, um alles Dazwischen wird es gehen. Schlüssel sind der Ortswechsel durch rote Schuhe. Ich frage Myrah nach einem Selbstportrait und denke an das Ablichten der Dinge und vor allem der Menschen, an die Ablichtung einer Stadtschreiberin und all die Personae, die sich Künstlerinnen heute (er-)schaffen. Myrah Adams lächelt sanft und wirkt nachdenklich. Es gibt Selbstportraits hinter Bäumen, kann ich sehen. „Du stellst kluge Fragen“, antwortet die Künstlerin.
Mehr über die Künstlerin unter: www.myrahadams.de
Fotos: Julia Kulewatz
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