Bänke der Begegnung

Heute ist der letzte Augusttag in diesem Jahr und ich habe eine wundervolle Einladung an die Universität nach Göttingen erhalten, um dort eine Vortragsreihe zu eröffnen. Mein Essay Königin der Nacht. Wider den schönen Schein in Mozarts „Zauberflöte“ ist noch vor der eigentlichen Veröffentlichung am 1. September durch Vorbestellungen bereits restlos ausverkauft. Er geht schon jetzt in die zweite Auflage. Mein Essay eröffnet die „Edition Schwarzer Kater“ in meinem Verlag kul-ja! publishing. Mit ihm kommt das erste „Katerheft“, auf welchem E. T. A. Hoffmanns berühmter Kater Murr mit all seiner Lebensweisheit prangt.  – Ein voller Erfolg, und das, obwohl so viel Verlagsarbeit durch mein Stadtschreiberamt liegen geblieben ist.

Morgen werde ich in der Stadtbibliothek Erfurt auf einer Lesung von meiner Zeit in Neu-Ulm sprechen, erste entstandene Texte vortragen, Fragen beantworten und Fragen aufwerfen. „Hin und wieder zurück“ – als ob das so einfach wäre. Einen Monat bin ich schon wieder zurück. Es ist Zeit, Revue passieren zu lassen, was so schnell an mir vorüberflog, was ich mitgenommen habe und was ich vergessen will.

Die „Bänke der Begegnungen“ hingegen habe ich Neu-Ulm mitgebracht. Sie waren Teil meiner Stadtschreiberbewerbung, meine Idee und Projektskizze. Menschen sollten und sollen wieder einander näherrücken. Von einem Texter der Stadt vorgeschlagene Slogans wie „Banking“ und „Platz da!“ waren für dieses Vorhaben gelinde ausgedrückt einfach unpassend, schließlich lag mein Hauptaugenmerk auf der Begegnung, auf welche Weise auch immer diese stattfinden sollte, um das Verweilen sollte es gehen.

„Verweile doch! du bist so schön!“ – mit diesem Zitat Fausts (Goethe: Faust I, Vers 1700) wird ein imaginierter, noch ferner, unbestimmt in der Zukunft liegender Augenblick als Sehnsuchtsmoment direkt angesprochen. Das wird Faust zum Augenblick sagen, er wird ihn bitten zu verweilen, denn seine Schönheit ist in seiner Vergänglichkeit (an-)erkannt. Es ist, als spräche er die Inspiration direkt an, die sich neben uns niederlässt, wenn man sie am wenigsten erwartet und nicht eingeladen hat zu bleiben oder gar Musenküsse zu hinterlassen.

Das Verweilen auf Parkbänken ist eine Liebeserklärung an den Augenblick in sich selbst. In der Literatur kennen wir die Augenblicksgeschichte, die sich als Zeiteinheit nicht klar bemessen lässt, ebenso erscheint es uns unmöglich, die Dauer des Verweilens zu ermessen, welches sich zum poetischen Seinszustand selbst entrückt und den Verweilenden ein Stück weit mitnimmt. Ich schreibe und lese draußen, eines von beidem nehme ich mir stets vor, dazwischen schleicht sich die Schönheit des Verweilens ein, in Begegnungen und Beobachtungen, die miteinander verschmelzen und ganz nebensächlich, gar aus Versehen zu Literatur werden. Nicht wenige Gedichte habe ich auf einer Parkbank sitzend in mir gedacht, sie mit meiner inneren Stimme auswendig gelernt, so flüchtig waren die leichten, fliegenden Verse, die mir beim Füttern der Tauben begegneten. Bänke zu „beschreiben“ ist im doppelten Sinne ein poetischer Akt. Wie oft haben mir Stift oder Papier gefehlt, wie oft lag das Buch geschlossen neben mir, wie oft fing ich an, die Bank zu lesen. Da waren Namen ohne Referenz, Graffitis, Gravuren im Holz, Brüche, Ast-Augen, Verloren-Gegangenes und Gefundenes. All das hat sich eingeschrieben, wenn ich es lese, belebe ich es wieder. Ich speise es im Verweilen mit meiner Lebenszeit. Als erwartungsloser Beobachter begegnet mir die Welt. Es ist kein Zufall, dass uns das Orakel im Spielfilm Matrix auf einer Parkbank sitzend begegnet. Wir bekommen Antworten, weil wir keine Fragen mehr stellen. Alle Antworten, die ich jemals auf Parkbänken sitzend bekam, waren schön, weil sie mir in poetischer Form widerfahren sind. Dann schreiben und lesen alle Geräusche mit. Die Seele darf baumeln. Dann denke ich an mein Studium in Korea, daran, wie auch der strengste Professor seine Schuhe auszog und sich ganz auf einer Campusbank niederließ. Die Strenge fiel mit den Schnürschuhen ab und manchmal legte sich eine Augenblickssonne auf die klugen Gesichter.

Auf Bänken wird man beschenkt, ganz unerwartet oft. Ich denke an die Bank in Alanya, auf der ich jeden Morgen den Sonnenaufgang sah, nachdem ich die Nächte oft durchgearbeitet hatte. Ich erinnere mich an den älteren Mann, mit dem ich dort täglich Tee und Lebensphilosophie teilte, immer, wenn der Tag neu anbrach, sprachen wir über Philosophie. Auch das hat mir die Bank am Meer als unauffälligster aller Transitorte geschenkt. Gestern ging ich an einem vorbei, der mit verklebtem Bart und einer Flasche Bier in der Hand auf einer Bank saß, neben ihm eine beschriftete Kiste mit Fotos, „zu verschenken“, um uns waren Touristen, sie gingen alle vorbei. Jedes einzelne Foto war fantastisch und er hätte sie alle hergegeben. Ich durfte schauen: Ein violetter Himmel, ein vergittertes Fenster im Regen, ein verkleinertes Venedig im Schwingen der Trauerweiden. Drei Fotos haben zu mir gesprochen. Zwei wollte er geben. Was ich damit vorhabe, war seine einzige Frage. „Gedichte“ habe ich gesagt, „… da müssen Gedichte drauf. Ich schreibe viele Briefe.“ Weil es Literatur werden sollte, durfte ich alle drei bekommen: den violetten Himmel, das Gitterfenster im Regen und die verwaschenen Weiden am Wasser. Alles, weil es das Verweilen gab, in der Schönheit, im Schauen. Der Augenblick definiert sich über den Wimpernschlag, der einen Augenblick von dem davor und dem danach trennt. Das Verweilen setzt sich aus beliebig vielen Augenblicken zusammen, dazwischen geschieht Poesie, dazwischen ist Schönheit, das wissen wir hinterher. Wissen wir es bereits währenddessen, so nehmen wir unsere eigene Vergänglichkeit wahr. Es ist, als ob wir wüssten, dass die Rose im Park nur für eine gewisse Zeit blüht. Blühen wird Poesie, wie das Betrachten der Welt, die an uns vorüberfließt, weil wir auf einer Parkbank sitzen.

Ich werde ebenfalls nie vergessen, wie man mir vor etwa einem Jahr verbieten wollte, auf einer Bank im Park zu sitzen. Das Buch auf meinem Schoß war nicht genug. Das Buch in meinem Kopf wird es sein, denn es ist nicht länger an Bänke und Begegnungen gebunden. Es sind die Gedichte, in denen ich bin, die Literatur, die mich verweilen lässt, von Angesicht zu Angesicht mit dem Leser und allen, die in Gedanken „Schönheit“ schreiben.

Auch den Bank-Begegnungen in Neu-Ulm wohnte diese Schönheit inne, und zwar im doppelten Maße. So fanden sich zunächst regionale Künstler und Kulturschaffende ein, städtische Bänke zu gestalten, auf welchen ich später Interviews mit Künstlern verschiedenster Couleur führte. Ich denke an Tommi Brem, die begnadete Myrah Adams oder den wahrscheinlich jüngsten Verleger Deutschlands, Alexander Walz, besondere Menschen, über die ich innerhalb dieses Blogs noch ausführlicher berichten werde.

Während ich diese Zeilen schreibe, führt die Stadt Neu-Ulm mein Projekt fort und plant die Ausgestaltung und das Bespielen weiterer Bänke. Eine Begegnung stößt also die kommende an. So kam es auch, dass mich Marcel Janczik,  Leiter der Poetry Slam AG des Lessing-Gymnasiums zu seinem Kurs als Stadtschreiberin Neu-Ulms einlud, um mit den Slamern zu sprechen und literarisch zu arbeiten (Stadtschreiberin Julia Kulewatz berät Poetry Slam AG). Dabei entstand Erstaunliches, u. a. das Gedicht „Zehn Zeilen Du“, welches den Weg in mein Stadtschreiberbuch „Die Verlebendigung der Dinge“ finden wird. Jeder bekam genau zehn Zeilen, nicht mehr und nicht weniger, um ein imaginiertes „Du“ anzusprechen. Zusammengesetzt ergeben sie ein Gedicht. Das Gedicht wiederum besteht ebenfalls aus zehn Strophen, von denen wir ab Oktober immer zum ersten Sonntag des Monats eine Strophe im Onlinemagazin des Verlages, der „Literatür“, veröffentlichen werden. Die jeweils passende Tür dazu, denn die Literatür setzt sich immer aus einem Text und einem Türbild zusammen, wird Alexander Walz zeichnen. Natürlich haben sich auch die talentierten Schüler der Poetry Slam AG Bänke der Begegnung für ihre Schule gewünscht, am besten beschrieben und mit eigenen Texten gestaltet.

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Fotos: Julia Kulewatz

 

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