„Almost another Alice“ – Auf der Suche nach dem weißen Kaninchen

Wir steigen aus dem Auto aus, ich stehe vor der Gärtnerei Blumen Weimar, einem steinernen Kreuz, einem Grabstein gegenüber, auf dem „ora et labora“ geschrieben steht. In Deutschland übersetzt man das mit „arbeite und bete“ –

Lange mein Lebensmotto und Erfolgsrezept, gewissermaßen bis heute, aber nicht in dieser Fehlübersetzung. Es ist, als würde für uns Deutsche immer die Arbeit an erster Stelle stehen, so auch in der Übersetzung, vielleicht hat man es dem beten (ora) aber einfach vorn angestellt, weil a- eben vor b- kommt und arbeiten (labora) auch grundsätzlich viel wichtiger als beten ist. Ich erinnere mich an mein Studium einer toten Sprache und welche Räume mir Latein eröffnete. Schullatein habe ich selbstverständlich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln gehasst und doch wurden alte Kirchen, später gar alte Stadtteile, Cicero für mich lesbar und es war mir schon als Schülerin eine Freude, Übersetzungsfehler oder allzu seltsame Interpretationen der eigentlichen Textgrundlage zu korrigieren bzw. umzugestalten, auch inmitten von Tests und Prüfungen, da gab es kein Pardon. Meine Lehrer freute das nicht. So weiß ich auch, dass man „labora“ auch im Sinne von „wirken“ übersetzen kann und dass der Orator der Sprecher, der Redner oder gar Bittsteller (an das Göttliche) ist, dass „labora“ noch in unser „Labor“ übertragen ist, unseren Wirkungsbereich. „Sprich und wirke“, könnte die Übersetzung ebenfalls lauten, oder „bitte und arbeite“. Warum mir dieser Eingangssatz so sehr im Gedächtnis hängen geblieben ist? – Er lässt sich meines Erachtens auf das „Arbeiten“ von Bernhard Weimar anwenden, aber dazu komme ich später.

Über dem Satz prangt eine wunderschöne Bergkristallformation und vor dem ersten Gewächshaus, das noch immer zum Verkaufsraum bei Blumen Weimar gehört, wacht ein riesiger steinerner Hund. Das ist gar keine Gärtnerei, denke ich, das tut nur so.

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Wir betreten das erste Gewächshaus, ich habe den versteinerten Hund gegrüßt und er ist noch nicht lebendig geworden, nachts könnte das anders sein. Irgendwo im Hintergrund plätschert Wasser wie Musik, oder plätschert Musik wie Wasser. Es riecht intensiv nach Zitronenblüten und ich denke an mein Zitronenbäumchen zuhause und frage mich, wie es dem guten Freund geht, der mich das ganze Jahr über mit Zitronen versorgt. Der Baumfreund könnte endliche einen größeren Topf vertragen, eines Tages vielleicht einen ganzen überdachten Garten, aber bis dahin muss ich noch viel Literatur erschaffen. Ich erinnere mich an einen anderen Freund, einen menschlichen, in der Ferne, bei dem so viele Zitronen wachsen, dass man Blüten vom Baum aus in den Kaffee streut. Was für eine verschwenderische Fülle und die Düfte … Zuhause ist mir jede einzelne Duftblüte kostbar, sie könnte eine ganze Zitrone werden und ich bestäube sie notfalls auch mit einem meiner Malpinsel. Ich zähle die Zitronenbäumchen in der Gärtnerei Weimar und fühle mich ein bisschen mehr wie zuhause. Jemand, der Zitronen liebt, wirkt hier, jemand, der sie zu angemessenen Preisen verkauft, jemand, der weiß, was sie wert sind. Ich höre leise Klaviermusik und mein Blick folgt einem von der Decke ausgehenden Lichtstrahl, der direkt auf ein altes Klavier fällt, Pflanzen ranken sich wie Legenden über die Klaviatur. Wo bin ich hier? Zwischen all den Kuriositäten stehen hölzerne Schreibtische mit Schubfächern, schön in ihren Fehlern. Einiges wandelt sich bereits, ist nicht mehr als Stuhl oder Pflanze auszumachen, ist ein bemooster Schrank oder bereits eine Stuhlpflanze. Noch zwei Durchgänge und ich bin mir sicher: Ich bin Alice im Wunderland. Nur waren es zwei Kaninchen zu meinen Füßen und keines war weiß.  Das Licht hilft verwandeln, die kleinen Blüten auf meinem Kleid beginnen sich ineinander zu wiegen, sie atmen Klaviermusik und flüstern leise. Ich folge der Sonne nach draußen und blinzle, bevor ich den letzten Gewächshausgang verlasse. Hinter mir spielt das Klavier, spielt das Wasser, tanzen die Zitronenblüten durch Kaffeetassen, klopft ein pinkfarbenes Kaninchen, folgt seinem lila Freund. Draußen ist alles grün und wir treffen beide Bernhards, die Schöpfer der Kaninchen, denke ich, eines für Licht, und eines für Wachstum, eines zum Wünschen und eines zum Wirken. Sonne und Wasser, draußen ist es gleißend hell. Bernhard Weimar hält sich noch vorsichtig im Hintergrund, alles um ihn gehört zu ihm, gehört zu seinen Händen, fließt aus ihnen, wächst und stirbt und erweckt sich wieder unter ihnen, verändert sich in seinem Schutz, in seinen Wirkungskreisen. Ich lache und frage, ob man aus Thüringen Blumen bei ihm bestellt. Das kommt tatsächlich öfter vor, man hält ihn für eine ganze Blumenstadt. Das ist so witzig zu hören, für jemanden der aus Erfurt kommt, denn diese Stadt trägt den Spitznamen „Blumenstadt“ – eine Sinnkrise. Das habe ich spätestens dann gewusst, als ich mich vor einigen Jahre verrückter Weise darum bewarb, Erfurter Blumenkönigin zu werden. Ich wollte mein Pflanzenwissen testen und unbedingt diesen Pflanzenblog mit Literatur bestücken. Eine dumme Idee, aber ich habe wie immer viel gelernt. Auch, was passiert, wenn Moderatoren den Namen von Bewerberinnen absichtlich falsch aussprechen und die Bewerberinnen aus einem Kaiser dann spontan einen König schrumpfen. Alice verändert ihre Größe mühelos, das weiß der steinerne Wächter, das weiß mein Blumenkleid, das wissen die Bernhards und die beiden Kaninchen. Bernhard Weimar erzählt mir Erfurter Anekdoten und ich weiß sofort, in Erfurt hat man zur Bundesgartenschau nicht verstanden, was er tut. Bernhard Weimar ist mutig, er bildet auch Verfall ab, gibt ihm Raum, lässt ihn gewähren. Schönheit wird transzendent und übersteigt sich selbst im Vergehen. Das Memento Mori wird überpräsent, ist nicht länger zu übersehen und auszublenden. Was bleibt ist der Augenblick selbst. Das blanke Jetzt. „Verweile doch! du bist so schön!“, das also ist Faust passiert. Elysium für einen Augenblick.

Der schönsten Blüte wohnt bereits der Tod inne, die Augenblicke sind nicht wiederholbar. Das bildet Weimars Pflanzenkunst ab, während Bernhard Thenmeyer durch sein Licht eine sanfte Führung übernimmt und die Geheimnisse blitzen lässt. –

„Vegetative Gestaltung“, Bernhard Weimars Eingriffe sind so fein, dass alles wie ein homogenes Ganzes wirkt, das Geheimnisse gut versteckt, das sie trägt wie ein Medaillon, direkt über der Brust. Ich bin mir plötzlich sicher, hier kommt der verrückte Hutmacher regelmäßig zum Tee. Mein Herz klopft vor Freude, wenn ich mir vorstelle, hier zu lesen, hier zu schreiben, Tee zu trinken oder Kaffee mit Zitronenblüten. Ich entdecke ein fein arrangiertes Regal mit antiquarischen Büchern im nach außen geöffneten Gewächshaus. Gedichte und Philosophie, Musik. Ich nehme mir ein Buch und setze mich an einen der vielen verschiedenen Tische. Dazwischen Keramik, Kisten, Kleiderbügel, Scherben und immer wieder eigensinniges Blühen, Werden, Sein, Vergehen. Ich fühle nicht, wie die Zeit vergeht, ich lese laut. Alle Termine einer Stadtschreiberin sind vergessen.

Bernhard Weimar führt mich durch die noch nicht eröffnete Ausstellungsvorbereitung. Große Hula Hoop Reifen, die einen Tunnel bilden, im Licht des anderen Bernhards steige ich nun endgültig hinab. Ich bin die hinter den Spiegeln.

„Darum überlegte sie nun (so gut es eben ging, denn das warme Wetter machte sie ganz schläfrig und benommen), ob es die Mühe lohnen würde aufzustehen, um Gänseblümchen zu pflücken und sich daraus eine Kette zu machen. Plötzlich rannte ein weißes Kaninchen mit roten Augen dicht an ihr vorüber. Daran war eigentlich nichts Besonderes, und Alice fand es auch nicht sehr verwunderlich, als das Kaninchen vor sich hinmurmelte: «Oje, oje! Ich komme bestimmt zu spät! » (erst als sie später darüber nachdachte, fand sie, dass sie allen Grund zum Staunen gehabt hätte, aber zunächst erschien ihr alles ganz natürlich.)“

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Bernhard Weimar und Bernhard Thenmeyer inszenieren die Pflanzen-Installationen innerhalb ihrer „Fleur de Chic“- Ausstellung, die vom 10. – 20. Juni auf dem Gelände der Gärtnerei Blumen Weimar (Breitenhofstr. 110, 89233 Neu-Ulm) stattfindet, der Eintritt beträgt 5 EUR.

Die 2. Stadtschreiberin Neu-Ulms, Julia Kulewatz, wird ihre Abschlusslesung am 23.07.2022 um 11:00 Uhr bei Blumen Weimar abhalten. Sobald sie aus dem Wunderland der beiden Kaninchen wieder aufgetaucht ist, wird sie dem Künstler ihr handschriftliches Werk, welches Voraussetzung für ihr finales Stadtschreiberbuch ist, für weitere Installationen überreichen.

Fotos: Julia Kulewatz

 

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